Eine systematische Verfolgung eines individuellen Fahrzeugzustands über eine längere Zeitperiode ist heute aufgrund der fehlenden Fahrzeugidentifikation nicht möglich, da die Messungen nicht zuverlässig den Fahrzeugen zugeordnet werden können. Stattdessen werden auftretende Alarme oder Auffälligkeiten der betroffenen Achse im Zugsverbund zugeordnet und das betroffene Fahrzeug muss im Interventionsfall manuell durch Zählen der Achsen identifiziert werden.
Aufgrund der fehlenden, zuverlässigen Fahrzeugidentifikation stützt sich das Betriebskonzept der Zugkontrolleinrichtungen auf die infrastrukturseitigen Netzzulassungsbedingungen, die unabhängig von Fahrzeug oder Fahrzeugtyp definiert sind. Dementsprechend sind die Interventionsschwellen unabhängig vom Rollmaterial und für die maximal zugelassenen Infrastrukturbelastungen angepasst. Fahrzeugtypspezifische Eingriffswerte und Kontrollen sind nicht möglich.
Die automatische, zuverlässige Fahrzeugidentifikation mittels RFID erlaubt einen fundamentalen Paradigmenwechsel des Betriebskonzepts. Durch die zuverlässige Fahrzeugidentifikation bei voller Streckengeschwindigkeit können mit den Zugkontrolleinrichtungen neu folgende Zusatznutzen generiert werden:
- Automatisierung manueller Prozesse und Prozessschritte
- Fahrzeugscharfe Zustandsüberwachung mit fahrzeugtypspezifischen Warnschwellen
- Prognose der Fahrzeug-Zustandsentwicklung für die Optimierung des Fahrzeugunterhalts
Die wesentlichen Veränderungen zwischen dem bestehenden Betriebskonzept ohne Fahrzeugidentifikation und dem zukünftigen Betriebskonzept mit Fahrzeugidentifikation sind einander in Tabelle 1 gegenübergestellt.
Tabelle 1: Gegenüberstellung der unterschiedlichen Betriebskonzepte mit und ohne automatische Fahrzeugidentifikation durch RFID.
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Ohne Fahrzeugidentifikation
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Mit Fahrzeugidentifikation
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Interventionsschwellen
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infrastrukturbezogen
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fahrzeugtypspezifisch
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Fahrzeugidentifizierung
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manuelle Verifikation
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automatische Identifikation
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Wirkungsweise
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Ereignisverhinderung durch Symptombekämpfung
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Zustandsoptimierung durch Ursachenbeseitigung
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Zielsetzung
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Sicherheitsgewinn
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Sicherheitsgewinn
Verfügbarkeitsgewinn
Optimierung der Lebenszykluskosten
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Prozessauslösung
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ereignis-, zustandsbasiert
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prognostizierte Zustandsentwicklung
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Prozesse
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ereignisbezogener Interventionsprozess mit Betriebsauswirkung
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präventive Information zur Fahrzeug-Zustandsentwicklung ohne Betriebsauswirkung
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Tabelle 1: Gegenüberstellung der unterschiedlichen Betriebskonzepte mit und ohne automatische Fahrzeugidentifikation durch RFID.
Damit dieser Zusatznutzen schnell und ohne administrativen Aufwand realisiert werden kann, wird die SBB Infrastruktur die Basisdaten zum Zustand RFID-getagter Fahrzeuge direkt den verantwortlichen Fahrzeughaltern kostenlos zur Verfügung zu stellen. Diese können die Daten ihrerseits verwenden, um den Fahrzeugunterhalt zu optimieren.
Der Infrastrukturbetreiber partizipiert indirekt an der Verbesserung des Fahrzeugzustandes:
- Die Zahl der fahrzeugbedingten Betriebsereignisse wird reduziert. Dadurch erhöhen sich die Trassenverfügbarkeit und Pünktlichkeit.
- Der Schadenseintrag in die Infrastruktur wird vermindert. Dadurch reduziert sich der Unterhaltsaufwand.
- Manuelle Prozesse können automatisiert und beschleunigt werden. Medienbrüche an Schnittstellen entfallen.
In einer ersten Phase werden den Fahrzeughaltern Basisdaten für den Radsatz-Zustand zur Verfügung gestellt. Der Radzustand wird aus der gemessenen Radaufstandskraft der RLC ermittelt. Als Kennzahl dient der dynamische Beiwert der Radaufstandskraft (der dynamische Beiwert beschreibt das Verhältnis der dynamischen zur statischen Radaufstandskraft). Durch die Fahrzeugidentifikation mit RFID können die einzelnen Radaufstandskraft-Messungen eindeutig den richtigen Rädern zugeordnet werden. Die Entwicklung des Radzustands lässt sich so auf einfache Weise verfolgen.
Abbildung 3 zeigt exemplarisch die Entwicklung der Radsatzzustände einer vierachsigen Lokomotive über einen Zeitraum von zwei Monaten. Die dynamischen Beiwerte der Räder der 1. Achse steigen mit der Zeit kontinuierlich an, die Zunahme indiziert die laufende Verschlechterung des Radzustandes. Nach Überschreiten einer vordefinierten Warnschwelle wird das Fahrzeug automatisch dem Fahrzeughalter gemeldet. Die Wirkung des anschliessend erfolgten Radsatzunterhaltes lässt sich anhand der kleinen dynamischen Beiwerte überprüfen. Die unerwartet schnelle, erneute Verschlechterung des Radzustandes wird durch den erneuten Anstieg der dynamischen Beiwerte ebenso zweifelsfrei detektiert.
In einem gemeinsamen Pilotprojekt von SBB Infrastruktur und SBB Personenverkehr wurden die automatisch generierten Radfehlermeldungen überprüft. Fahrzeuge mit auffälligen Messwerten wurden in die Werkstatt geleitetet und untersucht. Dabei erwies sich die Zuverlässigkeit der automatisch generierten Radfehlerindikation als praktisch fehlerfrei. Das Pilotprojekt wurde erfolgreich abgeschlossen und der Prozess in die Produktion überführt. Fahrzeuge mit automatisch generierten Radfehlermeldungen durch RLC werden ohne weitere Überprüfung direkt für den Unterhalt eingeplant. Dieser Prozess kann jedoch ohne eindeutige Fahrzeugidentifikation nicht auf allgemeine Fahrzeugflotten übertragen werden – bei SBB Personenverkehr sind praktisch nur eigene Fahrzeuge im Einsatz und Planung und Einsatz stimmen gut überein, eine Verwechslung von Fahrzeugen ist eher selten und hat nur geringe Auswirkungen. Im Güterverkehr hingegen, wo die im Zug eingesetzten Fahrzeuge und ihre Halter viel heterogener sind, ist ohne "RFID in Rail" eine aufwändige, manuelle und fehleranfällige Verifizierung notwendig.
Durch das Offenlegen der Radzustandsdaten können die Fahrzeughalter auch ihre eigenen, auf die internen Erfahrungen und Bedürfnisse abgestimmten Kriterien und Grenzwerte festlegen. Somit können sie den optimalen Zeitpunkt für den Radsatz- oder Fahrzeugunterhalt selber bestimmen.